Sie fragen nach einer Fachrichtung in der Mathematik, die sich in ihrer Beweisführung von der klassischen Mathematik unterscheidet. Dabei handelt es sich um den mathematischen Konstruktivismus. Diese Strömung der Philosophie der Mathematik vertritt einen anderen Standpunkt bezüglich der Existenz mathematischer Objekte und der Art und Weise, wie mathematische Aussagen bewiesen werden.
Der mathematische Konstruktivismus ist eine Richtung innerhalb der Philosophie der Mathematik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf idealistische Positionen entstand. Sein Kernpunkt liegt in der Überzeugung, dass mathematische Aussagen keine Beschreibung von Objekten sind, die unabhängig von unserem Denken existieren, sondern dass sie sich auf Objekte beziehen, die tatsächlich konstruiert werden können. Die Existenz eines mathematischen Objekts wird demnach durch die Möglichkeit seiner Konstruktion begründet.
Diese Denkweise unterscheidet sich fundamental von der klassischen Mathematik, die oft die Zermelo-Frenkel-Mengenlehre und das Auswahlaxiom verwendet. Diese ermöglichen es, die Existenz von Objekten abzuleiten, ohne eine explizite Konstruktionsmethode anzugeben. Für Konstruktivisten ist ein mathematisches Theorem nur dann gültig, wenn es einen konstruktiven Beweis gibt. Ein nicht-konstruktiver Beweis, der beispielsweise aus der Falschheit einer negierten Behauptung die Behauptung selbst folgert (ein indirekter Beweis), wird in der konstruktiven Mathematik nicht uneingeschränkt akzeptiert.
Die klassische Formulierung des mathematischen Konstruktivismus geht auf L. E. J. Brouwer und seinen Intuitionismus zurück. Weitere wichtige Vertreter und Entwickler des Konstruktivismus waren unter anderem Hermann Weyl, Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow und Erret A. Bishop. Hermann Weyl vertrat zunächst einen Intuitionismus, der von der Husserlschen Phänomenologie beeinflusst war, wandte sich aber später dem Formalismus im Sinne des Fichteschen Konstruktivismus zu, der Wissenschaft als „symbolische Konstruktion“ versteht. Formale Systeme des Konstruktivismus wurden von Arend Heyting, Solomon Feferman, Michael J. Beeson und Anne Sjerp Troelstra entwickelt.
Anfang des 20. Jahrhunderts war der von Weyl vertretene Konstruktivismus eine der Hauptpositionen im Grundlagenstreit der Mathematik, konnte sich jedoch gegenüber dem Formalismus und Logizismus nicht vollständig durchsetzen.
Der zentrale Unterschied zwischen der konstruktiven und der klassischen Mathematik liegt in der Art der akzeptierten Beweise. Während die klassische Mathematik auf der klassischen Logik mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (\(P \lor \neg P\)) und dem Auswahlaxiom aufbaut, die auch nicht-konstruktive Existenzbeweise zulassen, fordert der Konstruktivismus, dass für jede behauptete Aussage eine Konstruktionsweise oder ein Beweisverfahren angegeben werden muss.
Das bedeutet, um im Konstruktivismus eine Aussage der Form „P oder Q“ zu behaupten, muss entweder P oder Q tatsächlich bewiesen werden. Ein Beweis, der lediglich zeigt, dass die Annahme „nicht (P oder Q)“ zu einem Widerspruch führt, ist nicht ausreichend, um „P oder Q“ konstruktiv zu beweisen. Dies liegt daran, dass solch ein Beweis nicht notwendigerweise eine Methode liefert, um festzustellen, welche der Aussagen (P oder Q) wahr ist.
Die Ablehnung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten und des Auswahlaxioms in ihrer allgemeinen Form resultiert direkt aus dieser Forderung nach Konstruierbarkeit. Diese Sätze erlauben es in der klassischen Mathematik, Aussagen über mathematische Objekte abzuleiten, ohne anzugeben, wie diese Objekte konstruiert werden können.
Die konstruktive Mathematik verwendet stattdessen die intuitionistische Logik, in der der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht als allgemeingültig angesehen wird. Ein Beispiel hierfür ist die Beweisführung der Irrationalität von \(\sqrt{2}\) oder der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen, die in der konstruktiven Mathematik anders erfolgen muss als in der klassischen Mathematik, um den Anforderungen an einen konstruktiven Beweis zu genügen.
Ein Bereich, in dem sich die Unterschiede deutlich zeigen, ist die Analysis. In der klassischen Analysis werden reelle Zahlen oft als unendliche Dezimalentwicklungen oder als Dedekindsche Schnitte definiert. Die konstruktive Analysis hingegen benötigt eine Methode zur Konstruktion jeder betrachteten reellen Zahl. Dies führt dazu, dass Konstruktivisten oft nur mit konstruierbaren Teilmengen der Menge aller reellen Zahlen arbeiten, da eine Menge mit ausschließlich konstruierten reellen Zahlen nach konstruktivistischer Auffassung nie alle reellen Zahlen im klassischen Sinne enthalten kann.
Innerhalb des Konstruktivismus gibt es verschiedene Strömungen, die sich in ihren genauen Annahmen unterscheiden. Es ist wichtig zu beachten, dass diese aufgrund des gemeinsamen Namens manchmal fälschlicherweise für übereinstimmend gehalten werden.
Wie bereits beschrieben, konzentriert sich der mathematische Konstruktivismus auf die Philosophie der Mathematik und die Forderung der Konstruierbarkeit mathematischer Objekte und Beweise.
Der Radikale Konstruktivismus ist eine Position der Erkenntnistheorie, die sich deutlich von anderen Konstruktivismen unterscheidet. Er geht davon aus, dass der Betrachter die Wirklichkeit nicht objektiv wahrnimmt, sondern sie durch den Prozess des Erkennens selbst konstruiert. Die erkannte Welt ist demnach eine Konstruktion des Beobachters und nicht eine objektive Realität, die unabhängig vom Bewusstsein existiert. Dieser Ansatz wurde maßgeblich von Ernst von Glasersfeld geprägt.
Eine geometrische Komposition, die den konstruktiven Ansatz in der Kunst symbolisieren kann.
Der soziale Konstruktivismus betont die Rolle sozialer Interaktionen und kultureller Kontexte bei der Konstruktion von Wissen und Wirklichkeit. Wissen wird nicht als etwas objektiv Vorhandenes gesehen, das entdeckt wird, sondern als etwas, das in sozialen Prozessen und durch Kommunikation gemeinsam konstruiert wird. Soziale Konstruktivismen haben insbesondere in den Didaktiken der Mathematik und der Naturwissenschaften viele Anhänger gefunden.
Der Erlanger Konstruktivismus ist eine wissenschaftstheoretische Schule, die unter anderem von P. Lorenzen und W. Kamlah begründet wurde. Er leistet eine kritische Rekonstruktion der Wissenschaft auf Basis handlungstheoretischer Prinzipien und betont die Rolle sprachlicher und praktischer Konventionen bei der Konstitution von Wissen.
Der Konstruktivismus, insbesondere der radikale Konstruktivismus, unterscheidet sich deutlich vom Realismus, der die Erkennbarkeit einer objektiven Außenwelt postuliert, die unabhängig vom menschlichen Geist existiert. Aus konstruktivistischer Sicht gibt es Zweifel daran, dass das menschliche Wissen mit einer objektiven Wirklichkeit übereinstimmt. Nur solche Instanzen und Fakten, die vom menschlichen Geist selbst konstruiert wurden, sind erkennbar.
Einige moderate Formen des Konstruktivismus versuchen jedoch, den Unterschied zum Realismus auf einen Unterschied in der Erkenntnisauffassung zu reduzieren, indem sie versuchen, ihre Konstruktion der Wirklichkeit mit einer unabhängigen Realität gleichzusetzen. Dies zeigt die Bandbreite der Positionen innerhalb des Konstruktivismus.
Konstruktivistische Ideen haben auch einen erheblichen Einfluss auf die Didaktik der Mathematik. Die konstruktivistische Lerntheorie betrachtet Lernen als einen aktiven und konstruktiven Prozess, bei dem individuelles Wissen und Verständnis auf der Grundlage von Erfahrungen und Interaktionen mit der Umwelt aufgebaut wird. Der Lernende konstruiert demnach sein Wissen selbst, anstatt es passiv zu empfangen.
Schüler arbeiten gemeinsam an einer Aufgabe, was das soziale Lernen im Konstruktivismus widerspiegelt.
Wichtige Prinzipien des konstruktivistischen Lernens in der Mathematikdidaktik umfassen:
Die Rolle des Lehrers in einer konstruktivistischen Lehr-Lernsituation verschiebt sich von der reinen Wissensvermittlung hin zur Schaffung anregender Lernumgebungen, die die Lernenden dazu anregen, ihr Wissen zu konstruieren und umzustrukturieren. Authentische und sinnvolle Aufgaben, die an die Lebenswelt der Schüler anknüpfen, sind dabei zentral. Digitale Medien können konstruktivistische Lernprozesse vielfältig bereichern, indem sie beispielsweise Möglichkeiten für soziales Lernen und Handlungsorientierung bieten.
Der Hauptunterschied liegt in der Auffassung von Existenz mathematischer Objekte und der Art der akzeptierten Beweise. Im Konstruktivismus müssen Objekte konstruierbar sein, und Beweise müssen eine Konstruktionsmethode liefern. Die klassische Mathematik erlaubt auch nicht-konstruktive Existenzbeweise und verwendet den Satz vom ausgeschlossenen Dritten und das Auswahlaxiom uneingeschränkt.
Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten (\(P \lor \neg P\)) besagt, dass eine Aussage entweder wahr oder falsch ist. Im Konstruktivismus wird dies nicht als allgemeingültig angesehen, da ein Beweis, dass eine Aussage nicht falsch ist (\(\neg \neg P\)), nicht notwendigerweise eine Methode liefert, um zu konstruieren oder zu beweisen, dass die Aussage P wahr ist.
Ein konstruktiver Beweis liefert eine explizite Methode oder einen Algorithmus, um das behauptete mathematische Objekt zu konstruieren oder das Vorhandensein einer Eigenschaft zu zeigen. Er vermeidet Schlussfolgerungen, die lediglich auf der Annahme der Nichtexistenz des Gegenteils beruhen, ohne eine Konstruktion zu ermöglichen.
Der mathematische Konstruktivismus verwendet die intuitionistische Logik, die eine schwächere Form der Logik ist als die klassische Logik und bestimmte Schlussregeln, wie den doppelten Verneinung (aus \(\neg \neg P\) folgt P), nicht uneingeschränkt zulässt.
Konstruktivistische Ideen haben weitreichende Anwendungen gefunden, insbesondere in der Erkenntnistheorie (Radikaler Konstruktivismus) und in der Pädagogik und Didaktik (konstruktivistische Lerntheorie), wo sie das Verständnis von Lernprozessen und die Gestaltung von Lehr-Lernsituationen beeinflussen.